Die Kunst der Wahl des noch größeren Übels

Während die Märkte das Ende der Europäischen Währungsunion einpreisen (Schaubild 1) und der Interbankenmarkt vollends kollabiert ist (Schaubild 2), weist Angela Merkel auf dem G-20 Gipfel in Mexiko jede Kritik von sich und erklärt, was die Europäer alles unternommen haben, um die Währungsunion krisenfest zu machen: Fiskalpakt, Euro-Rettungsfonds, Bankenrekapitalisierung, Wachstumspakt und bald weitere Schritte zu einer politischen Union. Ist das wirklich nur eine skurrile Form von Realitätsverlust, oder steckt dahinter nicht letztlich doch schon seit längerer Zeit eine gezielte Absicht – die Absicht, allen anders lautenden öffentlichen Bekundungen zum Trotz, die Währungsunion zerfallen zu lassen? Vielleicht sogar gemäß der Devise „Die Währungsunion war der Preis, den wir für die deutsche Wiedervereinigung zahlen mussten, da kommt diese Krise jetzt gerade recht, um damit wieder Schluss zu machen“. In Zeiten wie diesen fällt es schwer, nicht zum Verschwörungstheoretiker zu werden.

Abbildung 1

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Abbildung 2

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Überlegt man, was jetzt eigentlich schnellstens zu tun wäre, um die Währungsunion noch zu retten, resultiert der Logik der Problemlage folgend mehr oder weniger zwangsläufig folgende Agenda: Um den anschwellenden Ansturm verunsicherter Sparer auf die Banken der Eurokrisenländer zu stoppen, muss kurzfristig ein EWU-weites System der Einlagensicherung geschaffen werden. Um die dabei entstehenden Moral Hazard Probleme zu handhaben, bedarf es einer europäischen Bankenregulierung mit Durchgriffsrechten auf alle Banken, deren Kunden den Schutz der Einlagensicherung genießen.

Nachdem dieser akute Brandherd gelöscht ist, müssen die hinter dem Bankensturm stehenden Ursachen – unterkapitalisierte Banken aufgrund von Forderungsausfällen, die durch das Platzen von Immobilienpreisblasen und dem Wertverfall von Staatsanleihen entstanden sind – durch den EU-Rettungsschirm (EFSF) bzw. seinen Nachfolger ESM wieder mit Eigenkapital ausgestattet werden. Um die dabei entstehenden Moral Hazard Probleme zu handhaben, muss die Rekapitalisierung in einer Form erfolgen, die die Anteilseigner für die Inanspruchnahme einer staatlichen Rekapitalisierung bestraft. Ein bewährtes Verfahren dazu ist die Verwässerung des Aktienwertes durch Zwangsumwandlung der Rekapitalisierungshilfe in Vorzugsaktien. Nach einer erfolgreichen Sanierung der Banken, können diese Aktien dann zu Lasten der Altaktionäre veräußert werden.

Durch diese Bekämpfung der Probleme der maroden Bankensektoren dürften die Refinanzierungsprobleme der Regierungen der Krisenstaaten kleiner werden aber nicht verschwinden. Die Eurokrise hat gezeigt, dass Staatsanleihen von Ländern ohne eigene Notenbank anfälliger für spekulative Attacken sind als die von anderen Ländern. Spekulative Attacken sind, wie hier schon einmal besprochen, auf Märkten möglich, die mehr als ein Marktgleichgewicht haben. Wenn sich beispielsweise genügend Spekulanten finden, die mit Leerverkäufen, Terminkontrakten oder Kreditausfallswaps auf einen Kursverfall von Staatsanleihen wetten, entstehen damit auf dem Kassamarkt Verkaufsanreize, die dann tatsächlich zu einem Rückgang der Kurse führen. Da ein Kursrückgang von Anleihen aber mit einem Anstieg ihres Marktzinses einhergeht, müssen Staaten, deren Anleihen Opfer einer spekulativen Attacke werden, höhere Zinsen bei der Refinanzierung ihrer Schulden zahlen. Steigen die Zinsen über die nominale Wachstumsrate ihres BIPs, ist ein positiver Primärüberschuss (Gesamtüberschuss plus Zinszahlungen des Staates) des Staatsbudgets notwendig, um die Schuldenstandquote (Schuldenstand des Staates dividiert durch BIP) zu stabilisieren. Um ausgehend von einer Situation mit negativem Primärüberschuss einen positiven Primärüberschuss zu erwirtschaften, müssen die Staatsausgaben gesenkt werden. Befindet sich ein Land ohnehin schon in einer Rezession (dh. ist das BIP-Niveau ohnehin bereits niedriger als das BIP-Niveau bei Kapazitätsauslastung), ist es sehr wahrscheinlich, dass dadurch die BIP-Wachstumsrate weiter sinkt. In diesem Fall vergrößert sich dann also der Primärüberschuss, der notwendig ist, um die Schuldenstandsquote zu stabilisieren. Wenn der Staat dann darauf mit einer weiteren Reduzierung der Staatsausgaben reagiert, ist das Szenario für eine sich selbst verstärkende konjunkturelle Abwärtsspirale gesetzt. Die dem Staat von den Finanzmarktspekulanten aufgezwungene Austeritätspolitik wirkt selbstzerstörend (dazu ausführlich Maurer (2012, S. 177-184)). Wenn eine solche Spirale erst einmal in Gang gekommen ist, bleibt dem betroffenen Staat am Ende nichts anderes übrig, als den Schuldendienst einzustellen und den Bankrott zu erklären. Der Kurs der Staatsanleihen fällt dann auf Null und die Gewinne der attackierenden Spekulanten erreichen damit ihr Maximum. Staaten, die sich in einer Rezession befinden, sind also anfällig für spekulative Attacken auf ihre Staatsanleihen. Das führt natürlich zu der Frage, warum hochverschuldete Staaten wie Japan (230%), USA (105%) oder Großbritannien (86%) in Rezessionen nicht regelmäßig Opfer spekulativer Attacken werden? Paul De Grauwe (2011) hat auf diese Frage eine sehr plausible Antwort gefunden: In Ländern mit eigener Währung ist das Risiko für attackierende Spekulanten viel größer als für Mitgliedsländer einer Währungsunion. Zum einen müssen die internationale Spekulanten mit Abwertungsverlusten rechnen, wenn sie in großem Umfang die in der Währung des attackierten Landes anfallenden Gewinne in ihre heimische Währung umtauschen wollen. Zum anderen besteht bei Ländern mit eigener Währung auch die Möglichkeit, dass die Notenbank das Risiko für spekulative Angreifer durch Aufkauf der Staatsschuld erhöht. Das ist auch ohne eine Ausweitung der Geldmenge möglich, wenn die Notenbank den Aufkauf der Staatspapiere durch eine Reduzierung anderer Forderungen sterilisiert. Unter solchen Bedingungen ist es für spekulative Angreifer also viel schwieriger, die benötigte Verkaufslawine in Gang zu setzen: Die Notenbank kann potentiell die Staatsanleihen verteidigen und dadurch erhöht sich die Wahrscheinlichkeit, dass sie es gar nicht erst tun muss.

Für Mitgliedsländer einer Währungsunion muss deshalb in irgendeiner Form eine „Brandschutzmauer“ hochgezogen werden, die sie vor derartigen spekulativen Attacken schützt. Prinzipiell könnte diese Aufgabe die Notenbank übernehmen, wie hier schon einmal erläutert. Das dabei resultierende Moral Hazard Problem könnte die Notenbank handhaben, in dem sie den Zinssatz für die Anleihen der einzelnen Länder um so höher setzt je höher die Schuldenstandsquote ist. Zusätzlich könnten die EZB die Dynamik der Schuldenentwicklung berücksichtigen: Länder auf Konsolidierungskurs könnten eine Reduzierung des Zinssatzes erhalten; Länder mit steigenden Schuldenstandsquoten müssten einen Aufschlag zahlen. Von Rezessionen betroffene Länder müssten einen Finanzierungspielraum erhalten. Notenbankchef Mario Draghi hätte diesen Weg mit dem wohlbegründeten Hinweis auf das Vorliegen von Marktversagen beschreiten können. Offensichtlich fehlte ihm dazu jedoch der Mut. Unter seiner Führung hat die EZB stattdessen mit den beiden langfristigen Krediten an die Geschäftsbanken des Eurosystems (Long Term Refinancing Operations, LTRO) vom 21. Dezember 2011 und 29. Februar 2012 diesen einen Anreiz gesetzt, Staatsanleihen der Krisenländer zu kaufen. Das hat zu einer vorübergehenden Absenkung der Zinssätze der Krisenländer (mit Ausnahme von Griechenland) geführt und dem Eurosystem damit zweifelsohne wertvolle Zeit gekauft. Wie Schaubild 1 zeigt, steigen die Zinsdifferenzen jedoch seit Ende Februar wieder. Für Spanien ist der Zinssatz für 10jährige Staatsanleihen von 5,26% am 21. Dezember 2011 auf 6,87% am 26. Juni 2012 gestiegen. Da sich die Kursentwicklung von Anleihen invers zur Zinsentwicklung verhält, bedeutet dies, dass die spanischen Geschäftsbanken, die den ersten LTRO zu Käufen spanischer Staatsanleihen verwendet haben, aus diesem Geschäft bereits schon wieder Verluste eingefahren haben. Wenn die Tendenz anhält, werden ihnen die italienischen und irischen Geschäftsbanken bald folgen. Ein fürwahr draghischer Fehler der EZB!

Da der europäischen Geldpolitik unter Mario Draghi offensichtlich der Mut fehlt, die notwendige Brandschutzmauer hochzuziehen, liegt der Ball nun wieder im Feld der Fiskalpolitik. Um den spekulativen Attacken den Boden zu entziehen, muss es in irgendeiner Form zu einer gemeinsamen Haftung für einen ausreichend großen Teil der Staatsschulden kommen. Die durchschnittliche Schuldenstandsquote der Mitgliedsländer der Währungsunion liegt mit aktuell 92% (Schätzung der EU-Kommission) noch immer deutlich unter den 105% der USA (Schätzung von USGovernmentSpending.com). Wenn es den USA also gelingt spekulativen Attacken (wie zuletzt der im Frühjahr 2011 vom PIMCO organisierten) überaus erfolgreich Widerstand zu leisten (s. Tabellenende von Treasury.gov), sollte das der Europäischen Währungsunion als Ganzes auch gelingen. Auch das dabei resultierende Moral Hazard Problem ist handhabbar. Schon der auf Delpla und von Weizäcker zurückgehende Vorschlag für die Einführung von „Blue Bonds“ und „Red Bonds“ enthielt ein im Detail durchdachtes Konzept für eine anreizkompatible Gestaltung einer gemeinsamen Haftung, wie hier schon einmal besprochen (hier eine Zusammenfassung). Auch der vom deutschen Sachverständigenrat vorgeschlagene „Schuldentilgungspakt“ trägt der Moral Hazard Problematik ausführlich Rechnung. Es mutet bizarr an, dass diese Möglichkeiten, eine gemeinsame Haftung für Staatsanleihen, so zu gestalten, dass das Moral Hazard Problem kontrolliert werden kann, in der wirtschaftspolitischen Diskussion hierzulande regelmäßig unterschlagen werden (aktuelles Beispiel), wie hier auch schon einmal diskutiert. Möglicherweise benötigt man zum Verständnis solcher Verhaltensweisen soziologische Theorien wie etwa die Theorie des Bezugsgruppenkonformismus, die auf das bekannte Experiment von Asch zurückgeht.

Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass zur Bewältigung der aktuellen Probleme der Währungsunion zunächst ein Einlagensicherungsfond, dann eine Rekapitalisierung der notleidenden Banken und schließlich eine gemeinsame Haftung für einen ausreichend großen Teil der Staatsschulden notwendig ist. Mit anderen Worten, notwendig ist genau das, was die derzeitige deutsche Regierung mit Bestimmtheit ausschließt. Bundeskanzlerin Merkel betont die großen, in der Ferne liegenden Ziele, wie eine politische Union und die „vielen kleine Schritte“, die dazu noch notwendig sind. Von den konkreten Maßnahmen, die notwendig wären, um das derzeit brennendste Problem, den anschwellenden Bankensturm in den Eurokrisenländer, zu stoppen, möchte sie nichts wissen. Man fühlt sich an jemand erinnert, der die Zimmertür zuschlägt, um zu verdrängen, dass das Zimmer brennt. Dabei greifen die Flammen bereits auf die tragenden Teile des Hauses über, denn die EZB betätigt sich derzeit als „Kreditgeber der letzten Zuflucht“ und versorgt die Geschäftsbanken der Krisenländer mit dem Geld, das ihnen sonst niemand mehr geben will.

Versucht man derartige, auf nichtrationalen Verhaltensannahmen basierende Erklärungen für das Verhalten der Bundesregierung zu vermeiden, wird es schwierig. Zwar könnte man die eingangs schon genannte Vermutung, dass die Bundesregierung insgeheim die Eurokrise nutzen möchte, um die vermeintlich nicht im deutschen Interesse liegende Währungsunion zu beenden. Dann stellt sich allerdings aus die Frage, warum sie sich noch immer an den kostspieligen aber die Probleme nicht an der Wurzel packenden und deshalb wirkungslosen „Rettungsaktivitäten“ beteiligt? Wenn sie wirklich Schluss mit der Währungsunion machen möchte, wäre es kostengünstiger, statt im Rahmen der diversen Rettungsaktivitäten, Bürgschaften für andere Länder zu übernehmen, die beim Zerfall der Währungsunion fällig werden, das Geld für die Rekapitalisierung deutscher Banken zusammenzuhalten. Denn eine solche wird notwendig sein, wenn die Europäische Währungsunion zerbricht.

Tabelle 1 zeigt die Forderungen der Geschäftsbanken außerhalb der Krisenländer gegenüber den Krisenländern auf Basis der Daten der Bank für internationalen Zahlungsausgleich (BIS). Was bei einem Auseinanderbrechen der Währungsunion alles passieren wird, ist schwer zu prognostizieren. Ein komplexes System von verflochtenen Kreditbeziehungen, das über mehr als einem Jahrzehnt im Vertrauen darauf entstanden ist, dass die Währungsunion nicht zerbrechen wird, könnte bei einem Finanzmarktschock der 4 bis 5 Lehman Brothers Pleiten entspricht (bei einem Kreditausfall von einem Drittel aller Forderungen der Krisenländer (Tabelle 1); deutsche Banken (Tabelle 1 unten) wären bei einem solchen Forderungsausfall mit einem Volumen betroffen, das einer Lehman Brothers Pleite entspricht) zu höchst erratischen Reaktionen neigen. Ein Szenario, das den Begriff „perfect storm“ sicherlich rechtfertigen wird. Um wenigstens die Kreditvergabe innerhalb Deutschlands nicht zum völligen Erliegen kommen zu lassen, müsste die Bundesregierung in erheblichen Umfang einspringen und Eigenkapital zur Verlustkompensation bereitsstellen. Wie sich eine derartige internationale Wirtschaftskrise darüber hinaus auf Wachstum und Arbeitsmarkt eines Landes mit einer Exportquote von mehr als 50% seines Bruttoinlandsproduktes auswirken wird, ist eine spannende Frage. Darf man noch hoffen, dass uns die empirische Beantwortung dieser Frage erspart bleiben wird?

Tabelle 1

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