Das Klimaschutzurteil des Bundesverfassungsgerichts: Finaler Lockdown 2029?

Dieser Beitrag ist auch auf The European erschienen.

Die Rezeption des Klimaschutzurteils des Bundesverfassungsgerichtes war in den Medien zumeist von dem ungläubigem Erstaunen geprägt, dass die Klagen nicht mit Verweis auf den politischen Gestaltungsspielraum des Gesetzgebers abgewiesen wurden. Dem Erstaunen folgte dann aber der erleichterte Hinweis, dass das BVerfG ja lediglich den zu kurzen Planungshorizont der CO2-Reduktionen des Klimaschutzgesetz als verfassungswidrig reklamiert hat und insofern kein großer Anpassungsbedarf besteht. Dabei wird allerdings übersehen, dass das BVerfG die Gelegenheit genutzt hat, bei der Begründung dieser Nachbesserungspflicht im obiter dictum eine Fülle von klimapolitischen Pflöcken einzuschlagen, die den politischen Gestaltungspielraum des Gesetzgebers in mehrfacher Hinsicht stark einschränken.

So ist der Gesetzgeber nach Ansicht der BVerfG zur Herstellung von Klimaneutralität mit dem Ziel, einen „Anstieg der globalen Durchschnittstemperatur auf deutlich unter 2 °C und möglichst auf 1,5 °C gegenüber dem vorindustriellen Niveau zu begrenzen“ verpflichtet (Rn 208). Diese Temperaturschwelle, die auch der Zielvorgabe in § 1 Satz 3 des Klimaschutzgesetzes entspricht, erklärt das BVerfG aufgrund von Art. 20a GG zur „verfassungsrechtlich maßgeblichen Temperaturschwelle“ (Rn 198). Nach Auffassung des BVerfG folgt daraus nun aufgrund des „annähernd linearen Zusammenhang“ zwischen CO2-Konzentration und Erderwärmung, dass das vom Weltklimarat in seinem Sonderbericht „1,5 °C Globale Erwärmung“ (IPCC (2018)) aus dieser Temperaturschwelle berechnete globale CO2-Budget eingehalten werden muss (Rn 36). Maßgeblich für die Umrechnung des globalen CO2-Budgets in das Deutschland noch zustehende CO2-Budget sind aus Sicht des BVerfG die vom „Sachverständigenrat für Umweltfragen“ (SUR) in seinem „Umweltgutachten 2020“ vorgenommenen Berechnungen. Der SUR berechnet das deutsche CO2-Budget durch Multiplikation des deutschen Bevölkerungsanteils an der Weltbevölkerung von 1,1% mit dem auf das Jahr nach dem Abschluss des Pariser Übereinkommens zurückgerechneten globalen Budget nach Friedlingstein et al.(2019). Dass die Verwendung des Bevölkerungsanteils eine Wertung des SUR enthält, die prinzipiell auch durch alternative normative Wertmaßstäbe ersetzt werden könnte, erkennt das BVerfG an. Es verweist jedoch darauf, dass nicht damit zu rechnen ist, dass das CO2-Budget dadurch wesentlich größer ausfallen würde (Rn 228). Aus dem daraus resultierenden deutschen Budget ab 2016 bestimmt der SUR durch Subtraktion deutschen CO2-Verbrauches der Jahre 2016 bis 2019 das Deutschland im Jahr 2020 noch zur Verfügung stehende Restbudget. Dividiert man dieses Restbudget durch den deutschen CO2-Verbrauch im Jahr 2019, so reicht das Restbudget noch bis zum Jahr 2029 (Abbildung 1). Bei gleichmäßiger linearer Reduzierung des jährlichen Verbrauchs, könnte das verfügbare Restbudget noch bis zum Jahr 2038 gestreckt werden.

Abbildung 1 – Berechnung des deutschen CO2-Budgets ab 2020 durch den „Sachverständigenrat für Umweltfragen“Quelle: Sachverständigenrat für Umweltfragen (2020, S. 52), IPCC (2018), Friedlingstein et al.(2019)

Nach den jetzigen Regelungen des Klimaschutzgesetz verbleibt im Jahr 2030 nur noch ein Restbudget von weniger als 1 Gigatonne. Das Klimaschutzgesetz ist deshalb nach Ansicht des BVerfG verfassungswidrig, weil es den Verbrauch des CO2-Budgets nur bis zum Jahr 2030 regelt, jedoch nicht in „grundrechtsschonender Weise“ darüber hinaus (Rn 233, 243-6).

Der Begründungsgang des Urteils enthält also eine Fülle von klimapolitischen Verpflichtungen für den Gesetzgeber, die den normalen gesetzgeberischen Gestaltungsspielraum stark einschränken. Aus einem allgemein formulierten unter Gesetzesvorbehalt stehenden Staatsziel wie Art. 20a GG wird auf wundersame Weise eine quantativ präzise Zielvorgabe für die Klimapolitik, die auch ein zukünftiger nun Gesetzgeber nun eigentlich respektieren muss. Eine derartige Konkretisierung eines Staatsziels ist nach Maßgabe von Art. 20a GG selbst aber die Aufgabe des Gesetzgebers. Das BVerfG betreibt an dieser Stelle also keine Rechtsprechung, es tritt qua Selbstermächtigung an die Stelle des Gesetzgebers. Das ist zweifellos ein unerhörter Vorgang. Auch das Prinzip, dass aus dieser Zielvorgabe ein CO2-Budget errechnet werden muss, das dann eingehalten werden muss, legt das BVerfG mit seinem Urteil fest. Alternativen zur strikten Einhaltung des CO2-Budget Einhaltung schließt das BVerfG aus: „Obwohl die konkrete Quantifizierung des Restbudgets durch den Sachverständigenrat nicht unerhebliche Unsicherheiten enthält, müssen ihm die gesetzlichen Reduktionsmaßgaben Rechnung tragen“. Dabei „darf der Gesetzgeber seine Wertungsspielräume nicht nach politischem Belieben ausfüllen“ (Rn 229). Offensichtlich liegt den Überlegungen des BVerfG also hier ein Verständnis von „Spielraum“ zugrunde, das nicht so ohne Weiteres mit dem normalen Sprachgebrauch in Übereinstimmung gebracht werden kann.

Eine Alternative zur strikten Einhaltung des CO2-Budgets etwa im Rahmen eines intertemporalen Ansatzes, bei dem zunächst eine Überschreitung des Budgets in Kauf genommen wird und die Reduktionslast damit teilweise in die Zukunft verlagert wird, wenn kostengünstigere CO2-Vermeidungs- und -Sequestrierungstechnologien zur Verfügung stehen, wird damit ausgeschlossen. Das BVerfG vertritt sogar explizit die kontrafaktische Hypothese einer „weitestgehend irreversiblen Wirkung der einmal zugelassenen und in die Erdatmosphäre gelangten Emissionsmengen“ (Rn 187). Damit liegt das BVerfG zweifellos auf einer Linie mit dem Sachverständigenrat für Umweltfragen (SUR (2009)). Es kann aber nicht sinnvoll bestritten werden, dass dass solche Sequestrierungstechnologien bereits existieren und ihr Einsatz lediglich eine Kostenfrage ist. Das Abwägen von Kostenalternativen sollte das BVerfG nun wirklich nicht auch noch an sich ziehen, zumal Kosten aufgrund von technologischem Fortschritt einem stetigen Änderungsprozess unterliegen.

Erstaunlich ist auch mit welchem Nachdruck das BVerfG den Gesetzgeber auch dann zur „Herstellung von Klimaneutralität“ verpflichtet hat – und zwar auch dann wenn andere Länder dieser Politik nicht folgen wollen. In gleich drei Randnummern wird diese Verpflichtung beschworen: Rn 199, Rn 201, Rn 203. Diese unbedingte Verpflichtung zur deutschen Klimaneutralität steht im logischen Widerspruch zu der aus Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG abgeleiteten Verpflichtung des Staates „Leben und Gesundheit“ der Bürger „vor den Gefahren des Klimawandels zu schützen“. Schreitet die Erderwärmung tatsächlich voran, weil zu wenige Staaten ihrer freiwilligen Selbstverpflichtung nach der Pariser Übereinkunft nachkommen, könnten Anpassungsmaßnahmen wie Investitionen in die Resilienz von Handelsrouten, Infrastruktur, Städtebau, Land- und Forstwirtschaft usw. zum Schutz des Lebens und der Gesundheit der Bürger erforderlich werden. Die dazu notwendigen Mittel müssen aber erwirtschaftet werden. Eine unbedingte Verpflichtung zur „Herstellung von Klimaneutralität“ stünde dem dann jedoch entgegen. Dass das BVerfG apodiktisch auf der nationalen „Herstellung von Klimaneutralität“ besteht und zwar auch dann, wenn diese Strategie nicht mehr sinnvoll ist, lässt den begründeten Verdacht aufkommen, dass ihm bestimmte ideologische Positionen letztlich wichtiger sind als das „Leben und Gesundheit“ der Bürger.

Interessant ist in diesem Zusammenhang auch ein Satz, der in Rn 203 auftaucht: „Gerade weil der Staat das ihm in Art. 20a GG auferlegte Klimaschutzgebot nur in internationalem Zusammenwirken erfolgreich umsetzen kann, darf er für andere Staaten keine Anreize setzen, dieses Zusammenwirken zu unterlaufen“. Hier verkennt das BVerfG offensichtlich die Anreizstruktur der Pariser Übereinkunft, die der eines Gefangenendilemmas entspricht (Abbildung 2):

Abbildung 2 – Gefangenendilemmastruktur der Pariser ÜbereinkunftAbbildung 2 stellt einen zwei Länder-Fall dar, der jedoch auf mehr als zwei Länder verallgemeinert werden kann. Es wird hier der Argumentation des BVerfG folgend unterstellt, dass bei Einhaltung der Pariser Übereinkunft alle Beteiligten einen positiven Nettoertrag, symbolisiert durch „+1“ erreichen können. Wenn dagegen alle gegen die Einkunft verstoßen, erleiden sie einen Verlust, symbolisiert durch „-1“. Missachtet dagegen ein Land die Übereinkunft, während sich das andere daran hält, kann dieses Land einen höheren Ertrag erzielen, symbolisiert durch „+2“, weil es seine CO2-Reduktionskosten einspart aber gleichzeitig von der CO2-Reduktion des anderen Landes profitiert. In diesem Fall erleidet das andere Land einen höheren Verlust, symbolisiert durch „-2“, weil es sowohl die Reduktionskosten als auch den Schaden durch die Missachtung der Übereinkunft durch das andere Land tragen muss. Das Pariser Übereinkommen enthält zwar eine allgemeines Bekenntnis der Unterzeichnerstaaten zur Begrenzung der globalen Durchschnittstemperatur auf deutlich unter 2 °C gegenüber dem vorindustriellen Niveau und die Selbstverpflichtung zu entsprechenden Treibhausgaseinsparungen. Allerdings ist diese Selbstverpflichtung nicht strafbewehrt. Die Anreizsituation entspricht also der des obigen Gefangenendilemmas.

Wenn nun das Verfassungsgericht von Land B diesem vorschreibt, unabhängig davon, was andere Länder machen, die Selbstverpflichtung der Pariser Übereinkunft immer einzuhalten, resultiert also für Land A ein Anreiz, sich nicht an die Übereinkunft zu halten. Hätte Land B dagegen von seinem Verfassungsgericht die Erlaubnis, in diesem Fall die Übereinkunft ebenfalls missachten zu dürfen, müsste Land A mit einer Bestrafung durch Land B rechnen. Diese Bestrafung wäre sogar glaubwürdig, weil Land B dabei seinen Verlust von „-2“ auf „-1“ reduzieren könnte. Unter diesen Bedingungen wäre dann die Bereitschaft aller Länder größer, die Pariser Übereinkunft weiterzuentwickeln und die freiwilligen Selbstbeschränkungen durch einen zusätzlichen Vertrag in strafbewerte Beschränkungen umzuwandeln. Es zeigt sich also, dass der Satz „Gerade weil der Staat das ihm in Art. 20a GG auferlegte Klimaschutzgebot nur in internationalem Zusammenwirken erfolgreich umsetzen kann, darf er für andere Staaten keine Anreize setzen, dieses Zusammenwirken zu unterlaufen“ einerseits ein Verhalten des deutschen Staates erfordert, das anderseits das Urteil des BVerfG wiederum verbietet.

Man sieht also, dass das BVerfG – auch wenn es sich offensichtlich berufen fühlt, ex cathedra zu sprechen – irren kann. Nun ist Irren zweifelos menschlich. Eine Parlamentsmehrheit die irrt, kann ihren Irrtum relativ schnell wieder korrigieren. Tut sie es nicht und irrt sie häufiger, kann sie vom Wähler abgewählt werden. Bei einem Verfassungsgericht ist das nicht der Fall. Gerade deshalb, sollte sich ein Verfassunggericht nicht zu weit in die Bewertung empirischer Sachverhalte einmischen, insbesondere solcher, die auf geschätzten Wahrscheinlichkeitsverteilungen beruhen. Dies ist in einer Demokratie die originäre Domäne des Parlamentes. Auch eine verfassungrechtlich unbegründete Einengung des normativen Spielraums des Gesetzgebers kann nicht die Aufgabe des Verfassungsgerichtes sein. Art. 4 Abs. 1 GG gewährt jedem Bürger die freie Wahl des weltanschaulichen Bekenntnisses. Art. 20 Abs. 2 GG erklärt die Gesamtheit aller Bürger zum Souverän, der die Staatsgewalt in Wahlen und Abstimmungen ausübt. Wenn diese Grundrechte eingeschränkt werden sollen, bedarf dies einer profunden und logisch widerspruchsfreien Begründung. Es ist offensichtlich, dass das BVerfG dem mit seinem Klimaschutzurteil nicht gerecht wird.

Nachträge:

Eine kritische Diskussion des Klimaschuzturteilteils des BVerfG aus juristischer Sicht bietet der Freiburger Statsrechtler Dierich Murswiek auf dem Videoportal der Universität Freiburg hier.

Eine kritsche Sichtung ökonomischer Probleme des Urteils findet sich in einem Video des Magdeburger Ökonomen Joachim Weimann hier.

Auch der ehemalige Verfassungrichter Udo di Fabio äußert sich nun in der Welt kritisch zum Klimaschutzurteil des BVerfG:

„(…) Andererseits geht das Gericht über die traditionelle Verfassungsauslegung hinaus, indem es Grundrechte intergenerationell versteht, eine Staatszielbestimmung wie den Schutz der natürlichen Lebensgrundlagen verfassungsrechtlich sehr stark auflädt und damit der Politik letztlich Vorgaben macht. Ich bin nicht sicher, ob man aus Staatszielbestimmungen so konkrete Anweisungen ableiten kann. Jedenfalls belastet das in unserem gewaltenteiligen System die Gestaltungsmöglichkeit der Volksvertretungen. (…)“

Der ehemalige Hamburger Umweltminister Fritz Varenholt und sein Koautor Sebastian Lüning haben ein interessantes Buch zum Klimaschutzurteil des BVerfG geschrieben, in dem sie die Annahmen des Gerichts mit dem Stand der Forschung vergleichen und personelle Verbindungen der schriftführenden Richterin Gabriele Britz mit der Partei Bündnis90/Die Grünen offenlegen. Die wichtigsten fachwissenschaftlichen Kritikpunkte hat Sebastian Lüning in diesem Youtube-Video zusammengefasst.

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