Die Nachhaltigkeitsproblematik aus analytischer Sicht

Das an dieser Stelle ausführlich erörterte Ziel des vom Bundesbildungsministerium lancierten Verbundprojektes HOCH-N, „ein gemeinsames, hochschulspezifisches Nachhaltigkeitsverständnis zu entwickeln“ (HOCH-N, 2020, S.1, [3]), ist aus fachlicher Sicht einigermaßen erstaunlich, da jede Nachhaltigkeitskonzeption aus einer Vielzahl empirischer Hypothesen und normativer Entscheidungen beruht, die eine enorme Vielfalt von Nachhaltigkeitsvarianten ermöglicht. Da bei jeder Nachhaltigkeitsvariante normative Entscheidungen getroffen werden müssen und da es kein allgemein anerkanntes Verfahren zum Beweis der Richtigkeit solcher Entscheidungen gibt, kann also nicht in irgendeiner Form „wissenschaftlich“ entschieden werden, welche Nachhaltigkeitsvariante die richtige ist. Jede Nachhaltigkeitsvariante wird also wesentlich von Entscheidungen bestimmt, die ihrer Natur nach subjektiv sind. Das folgende Schaubild zeigt die Struktur des Problems:

Ursächlich für das Auftreten von Nutzungskonkurrenzen und der daraus resultierenden Zielkonflikte ist die Knappheit natürlicher Ressourcen, wie der Kausalpfeil symbolisiert. Wären alle benötigten Ressourcen unerschöpflich, gäbe es keine Nutzungskonkurrenzen. In einem derartigen Schlaraffenland bestünde keine Notwendigkeit, den Zugang zu Ressourcen in irgendeiner Form zu regulieren, da der Verbrauch einer Ressource durch ein Lebewesen kein anderes Lebewesen in seinem Verbrauch dieser Ressource beschränken würde.

Unerschöpfliche Ressourcen

Unerschöpfliche Ressourcen sind Geothermie, Solarenergie und daraus resultierende Energiequellen wie Wind- und Wasserkraft. Solarenergie und Geothermie stehen in einem Umfang zur Verfügung, der durch menschlichen Gebrauch nicht reduziert wird. Allerdings werden zur Umwandlung dieser Energien in ökonomisch nutzbare, dauerhaft verfügbare Energien, Maschinen benötigt, für deren Bau erschöpfbare Ressourcen, wie Metalle und Mineralien, benötigt werden.

Erschöpfbare Ressourcen

Als erschöpfbare Ressourcen bezeichnet man typischerweise Rohstoffe, die in der Erdkruste vorkommen. Da die Masse der Erdkruste eine endliche Größe ist, ist auch die Verfügbarkeit dieser Rohstoffe endlich. So gesehen sind diese Ressourcen also erschöpfbar. Unterstellt man, dass auf absehbare Zeit für die Rohstoffgewinnung lediglich die ersten 3 km der Erdkruste in Frage kommen, so ist ein Anteil von 10 Prozent der Masse der ca. 20 km dicken Erdkruste, als potentieller Abbauraum eine konservative Annahme. In der Tabelle „Verfügbarkeit und Reichweite wichtiger Rohstoffe“ wird dieser Anteil unterstellt. Wie man in Spalte 5 erkennen kann, beträgt die statische Reichweite gemessen am durchschnittlichen Vorkommen der Rohstoffe im Vergleich zur heutigen Jahresproduktion in jedem Fall deutlich mehr als 1 Million Jahre. Am geringsten wäre die Reichweite für Kupfer mit ca. 6 Millionen Jahren.

Allerdings ist umstritten, inwieweit die in der Erdkruste vorkommenden Rohstoffe dort in einer Konzentration vorliegen, die einen wirtschaftlichen Abbau erlaubt. Während in einem gemeinsamen Gutachten der deutschen Akademien die Auffassung vertreten wird, „Die größten Potenziale, neue Lagerstätten zu entdecken, liegen in der Tiefe: Die bisherigen Entdeckungen […] waren oberflächennah. Seit etwa 1990 aber wurden immer öfter tiefliegende Erzkörper entdeckt“ (Akademien, 2016, S. 86, [9]), vertritt der Club of Rome noch immer die Ansicht, dass es „wenig wahrscheinlich ist, dass wir auf neue Ressourcen in substanziellen Größenordnungen stoßen“ (Club of Rome, 2016, S. 165, [10]). Berechnet man die Reichweite auf Basis der bereits bekannten und derzeit wirtschaftlich abbaubaren Rohstoffvorkommen (Reserven), so ergeben sich erheblich geringere Reichweiten (Spalte 9). Es wäre jedoch falsch, daraus den Schluss zu ziehen, dass diese Reichweiten tatsächlich das Ende der Verfügbarkeit dieser Rohstoffe markierten. Die historische Erfahrung zeigt, dass Reichweiten im Zeitverlauf nicht sinken, wie im ersten Bericht des Club of Rome prognostiziert (Club of Rome, 1972, S. 55-56, [11]), sondern um einen konstanten Wert schwanken, der für jeden Rohstoff spezifisch ist (Wellmer, 2022, [12]). Das impliziert, dass bisher noch keine Verknappung von Rohstoffen eingetreten ist. Dies deckt sich auch mit der langfristigen Entwicklung realer Rohstoffpreise, die von 1900 bis 2020 keinen von zunehmender Knappheit getriebenen trendmäßigen Anstieg erkennen lassen, wie die Daten von Jacks (2019, [13]) zeigen (Reale Preisentwicklung Metalle und Reale Preisentwicklung Mineralien). Dass die im ersten Bericht des Club of Rome prognostizierte Rohstoffverknappung (Club of Rome, 1972, S. 55-56, [11]) nicht eingetreten ist, dürfte vor allem an einer vom Club of Rome bei seinen Prognosen nicht berücksichtigen empirischen Regelmäßigkeit liegen, dem sogenannten „Hauptsatz der Geochemie“ (Ahrens, 1954, [14]). Danach ist verfügbare Menge einer erschöpfbaren Ressource so verteilt, dass sie exponentiell zunimmt, wenn man eine Reduzierung der Konzentration im Abbaugestein in Kauf nimmt. Wenn sich also Abbaustätten mit hohem Erzgehalt erschöpfen und der Preis knappheitsbedingt zu steigen beginnt, lohnt sich die Erschließung neuer Abbaustätten mit niedrigerem Erzgehalt, so dass der Preis wieder sinkt (Schwerhoff/Stuermer 2015, [15]). Auf diese Weise kann der reale Preis einer erschöpfbaren Ressource langfristig konstant bleiben oder, wenn das Angebot aufgrund der größeren Verfügbarkeit dauerhaft steigt, sogar sinken.

Es zeigt sich also, dass es über die Verfügbarkeit potentiell erschöpfbarer Ressourcen einen lebhaften Diskurs gibt. Diesen Diskurs durch das Erzwingen einer vereinheitlichten Konsensmeinung zu beenden, wie es das vom BMBF lancierte Projekt HOCH-N vorsieht (HOCH-N, 2020, S.1, [3]), würde nicht nur gegen bestehendes Verfassungsrecht verstoßen, sondern auch den wissenschaftlichen Erkenntnisfortschritt bei einer Reihe wichtiger Zukunftsfragen erschweren.

Regenerierbare Ressourcen

Zu den regenerierbaren Ressourcen zählen nachwachsende Rohstoffe aus land- und forstwirtschaftlicher Produktion und die Schadstoffaufnahmekapazität natürlicher Ökosysteme. All diese Ressourcen produzieren über einen bestimmten Zeitraum einen Rohstoff (z.B. Holz, Stärke, Zucker, Öl, Protein) oder eine „Ökodienstleistung“ (z.B. Absorption von Schadstoffen) in einer natürlichen Reproduktionsmenge, die von der Größe des Bestands abhängt. Wird dauerhaft mehr verbraucht, als es der natürlichen Reproduktionsmenge entspricht, verliert der Ressourcenbestand einen Teil seiner Regenerationsfähigkeit und die natürliche Reproduktionsmenge sinkt.

Einer der ersten, der auf diesen Zusammenhang zwischen Strom- und Bestandsgröße bei einer regenerierbaren Ressource hingewiesen hat war Carl von Carlowitz, in seinem forstwirtschaftlichen Lehrbuch „Sylvicultura oeconomica“ aus dem Jahr 1713: Wird mehr Holz aus einem Wald entnommen, als nachwächst, schrumpft der Waldbestand und umgekehrt. Aus diesem Zusammenhang, der eine Tatsachenbeschreibung darstellt, folgt aber nicht ohne weiteres eine Handlungsanweisung. Hinzukommen muss die normative Festlegung eines Handlungsziels (Sollenssatz). Will man dass die Größe des Waldbestandes konstant bleiben soll, muss die Holzentnahme der natürlichen Reproduktionsmenge entsprechen. Will man, dass die Größe des Waldbestandes wachsen soll, muss die Holzentnahme kleiner sein als die natürliche Reproduktionsmenge. Besteht ein Zielkonflikt, z.B. zwischen Holzproduktion und der Produktion von Feldfrüchten, der zugunsten einer größeren Menge an Feldfrüchten gelöst werden soll, so muss die Holzentnahme über der natürlichen Reproduktionsmenge des Waldes liegen, bis genügend Flächen für die Produktion von Feldfrüchten gerodet sind. Will man dagegen, dass die Biodiversität auf der Waldfläche möglichst groß sein soll, ist es mit einer Konstanthaltung des Waldbestandes nicht getan, denn bei der Nutzung eines Waldes zur Holzproduktion sinkt die Biodiversität erheblich im Vergleich zu einem ungenutzten Urwald. Man muss in diesem Fall also auf die Holzproduktion verzichten. Eine handlungsführende Nachhaltigkeitskonzeption muss also immer aus einer empirischen Hypothese und einer normativen Zielsetzung bestehen. Aus der Beschreibung des empirischen Zusammenhangs zwischen Waldbestand und Reproduktionsmenge allein folgt noch keine Nachhaltigkeitskonzeption. Die Behauptung, Carl von Carlowitz hätte „die Nachhaltigkeit“ erfunden (Carl-von-Carlowitz-Gesellschaft, 2013, [16]) ist deshalb irreführend.

Während der empirische Zusammenhang zwischen Bestandgröße und Reproduktionsmenge bei einem Wald normalerweise relativ einfach zu ermitteln ist und deshalb nicht Gegenstand ausgeprägter Kontroversen ist, ist die Schadstoffaufnahmekapazität natürlicher Ökosysteme aufgrund der Komplexität der Wechselbeziehungen in solchen Systemen deutlich schwieriger abzuschätzen. Im Zentrum vieler Debatten steht dabei im Moment die Fähigkeit der Biosphäre zur Absorption von Treibhausgas und der Einfluss des nicht absorbierten Treibhausgases auf das Erdklima. Aufgrund der potentiell großen Gefahren, die vom Treibhausgaseffekt auf die Biosphäre ausgehen können, wurde vom Umweltprogramm der Vereinten Nationen 1988 der „Weltklimarat“ (IPCC) eingerichtet. Aufgabe des IPCC ist die Zusammenfassung und Evaluierung des wissenschaftlichen Forschungsstandes mit dem Ziel, politischen Entscheidungsträgern eine Informationsgrundlage zu bieten. Nach seinem Selbstverständnis gibt der IPCC aber keine Handlungsempfehlungen (IPCC, 2022, [17]). Es wird also bewusst getrennt zwischen deskriptiver Forschung und normativer Setzung von Handlungszielen, die den politischen Entscheidungsträgern überlassen bleibt. Diese Zurückhaltung des IPCC, lässt der deutsche WBGU in seinem „Gesellschaftsvertrag für eine Große Transformation“ (WBGU, 2011, [4]), wie gesehen, vermissen.

Die Sachstandsberichte des IPCC stellen eine Bewertung des Forschungsstandes durch von Regierungen vorgeschlagenen und vom IPCC Büro ausgewählten Forschern dar. Das IPCC Büro selbst wird auf dem IPCC Plenum wiederum von Vertretern der Regierungen bestimmt. Die Sachstandsberichte werden häufig als wissenschaftlicher Konsens der Klimaforschung interpretiert, was mit Blick auf dieses Auswahlverfahren natürlich nicht notwendigerweise der Fall sein muss. Sicherlich wäre es aber völlig unzutreffend, Wissenschaftler, die einen wie auch immer definierten „wissenschaftlichen Konsens der Klimaforschung“ ablehnen oder in Teilbereichen kritisieren, als „Klimawissenschaftsleugner“ zu bezeichnen, wie dies z.B. in einem Wikipedia-Eintrag zum Stichwort „Klimawandelleugnung“ getan wird. In der Geschichte der Wissenschaft wurden durch Kritik von etablierten Mehrheitsmeinungen schon häufig wichtige Beiträge zum wissenschaftlichen Fortschritt geleistet. Kritik ist deshalb nach verbreiteter Ansicht ein wichtiger Treiber des wissenschaftlichen Fortschritts.

Im Zentrum der Hypothese des menschengemachten Klimawandels steht der kausale Zusammenhang zwischen der Treibhausgaskonzentration in der Atmosphäre und dem Anstieg der erdnahen Durchschnittstemperatur, die sogenannte „Klimasensitivität“. Durch kontrollierte Laborexperimente in künstlichen Atmosphären lässt sich ein Wert der Klimasensitivität von 1,2°C bei einer Verdopplung der Treibhausgaskonzentration ermitteln (Rahmstorf/Schellnhuber, 2019, [18]). Dieser Wert ist deshalb weitgehend unstrittig. In Klimaprognosemodellen wird jedoch in der Regel ein deutlich höherer Wert verwendet. In seinem aktuellen Sachstandsbericht geht der IPCC von einem Schätzwert „based on multiple lines of evidence“ für die Klimasensitivität von 3,0°C aus (IPCC, 2021a, S. 1006, [19]). Der Unterschied zwischen dem experimentellen Wert und IPCC-Schätzwert erklärt sich durch die Hypothese positiver Rückkopplungseffekte, vor allem aufgrund von vermehrter Wolkenbildung bei höheren Temperaturen. Die Auswirkung von Wolken auf den Treibhausgaseffekt ist jedoch ambivalent. Tieffliegende Wolken halten Sonnenstrahlen von der Erde ab und erzeugen deshalb einen negativen Rückkopplungseffekt. Hochfliegende Wolken bilden Eiskristalle, die das von der Erde reflektierte Sonnenlicht wieder zurückwerfen und deshalb einen positiven Rückkopplungseffekt verursachen. Die Gesamtstärke des Rückkopplungseffektes der Wolkenbildung hängt also wesentlich vom quantitativen Verhältnis zwischen tief- und hochfliegenden Wolken ab. Dieses ist jedoch umstritten. Backtests der für den aktuellen Klimabericht verwendeten „CMIP6“ Prognosemodelle mit historischen Daten (die allerdings nur bis Mitte des 19. Jahrhunderts zurückreichen) zeigen, dass diese Modelle einen stärkeren Temperaturanstieg prognostizieren, als der tatsächliche Temperaturanstieg im beobachteten Zeitraum. Auch der Potsdamer Klimaforscher Stefan Rahmstorf hat dies in einer Spiegel-Kolumne konzediert (Rahmstorf, 2020, [20]). Zelinka et al. (2019, [21]) führen diese Eigenart der CMIP6 Modelle auf einen zu hohen positiven Rückkopplungseffekt aufgrund einer zu stark abnehmenden Bedeckung mit tieffliegenden Wolken zurück. Auch eine Studie von Mülmenstädt et al. (2021, [22]) kommt zu dem Ergebnis, dass die im jüngsten IPCC-Bericht verwendeten CMIP6 Klimamodelle die Lebensdauer tieffliegender Wolken unterschätzen und deshalb von einer zu großen Klimasensitivität ausgehen. Die Klimasensitivität der CMIP6 Modelle liegt in einem Bereich von 1,8 – 5,6°C und übersteigt bei einem Drittel der Modelle die Schwelle von 4,5°C (Zelinka et al., 2019, [21]). Sie ist damit deutlich höher als die vom IPCC geschätzte Klimasensitivität von 3,0°C (IPCC, 2021a, S. 1006, [19]). Gleichwohl ist der IPCC der Meinung, dass die neuen CMIP6 Klimamodelle aufgrund ihrer höheren räumlichen Auflösung einen Fortschritt im Vergleich zu den alten CMIP5 Klimamodellen darstellen ((IPCC, 2021a, S. 151, [19]). Das sieht eher nach weiterem Diskussionsbedarf aus, als nach einem Ende der Debatte. Und grundsätzlich muss es natürlich auch möglich sein, zu hinterfragen, ob eine Beschränkung des Validierungszeitraums von Klimaprognosemodellen auf den Zeitraum seit Beginn der Industrialisierung, der mit dem Ende der kleinen Eiszeit zusammenfällt, tatsächlich sinnvoll ist. Das gilt um so mehr, als die Rekonstruktion älterer Klimadaten, auf die sich der IPCC stützt, Veränderungen unterliegt (vgl. etwa das „Hockeyschläger-Diagramm“ in IPCC SPM (2021b, S. 6, Fig. 1a, [23]) mit dem „Hockeyschläger-Diagramm“ in IPCC SPM (2001, S. 3, Fig. 1b, [24])), ohne dass erläutert wird, wie diese Veränderungen zustande kommen und warum sie sich von anderen Temperaturrekonstruktionen (z.B. Büntgen et al., 2020, Fig. 5 und 7, [25]) deutlich unterscheiden. Ebenso erklärungsbedürftig ist die Behauptung des IPCC, eine Reduzierung der anthropogenen CO2-Emissionen auf mindestens „netto null“ sei notwendig, um eine Stabilisierung der globalen Erwärmung auf einem bestimmten Niveau zu erreichen (IPCC, 2021a, S. 27, [19]). Nach den Daten des „Global Carbon Projects“ erreicht die globale CO2-Absorption durch natürliche Senken derzeit ein jährliches Niveau von etwa 6 Mrd. Tonnen, während die jährlichen anthropogenen CO2-Emissionen bei etwa 11 Mrd. Tonnen liegen (Global Carbon Project, 2021, [26]) ). Eine Reduzierung der anthropogenen CO2-Emissionen um 50% würde also bereits genügen, um einen weiteren Anstieg der CO2-Konzentration in der Atmosphäre dauerhaft zu stoppen (Anthropogene CO2-Emissionen und natürliche Senken). Da die Anpassungskosten einer Senkung der Emissionen um 50% erheblich niedriger sind als einer Senkung um 100% („netto null“), ist nicht ohne weiteres nachvollziehbar, warum der IPCC die politischen Entscheidungsträger nicht auf diese Handlungsoption hinweist. Es zeigt sich also, dass es auch mit Blick auf den empirischen Forschungsstand der Klimawissenschaft kein feststehendes „Systemwissen“ (HOCH-N, 2020, S.6, [3]) gibt, sondern lediglich Vermutungswissen, das auf eine Weiterentwicklung durch ständige kritische Überprüfung angewiesen ist.

Akzeptiert man, trotz allem Diskussionsbedarf, den aktuellen Sachstandbericht des IPCC als beste derzeit verfügbare Beschreibung der empirischen Zusammenhänge, stellt sich für die politischen Entscheidungsträger die Frage, wie darauf reagiert werden soll. Da durch einen Anstieg der globalen Durchschnittstemperatur zukünftigen Generationen Schäden entstehen können, liegt ein potentieller intergenerativer Zielkonflikt zwischen der Wohlfahrt heutiger und zukünftiger Generationen von Menschen und anderen Spezies vor. Um die Folgen eines globalen Temperaturanstiegs für zukünftige abschätzen zu können, werden in der Klimaforschung fünf standardisierte Szenarios (Shared Socioeconomic Pathways (SSPs) eingesetzt. Das Szenario, das voraussichtlich zu dem höchsten Temperaturanstieg (5°C) bis 2100 führt, wird SSP5 („Fossil-fueled Development-Taking the Highway“) genannt; das Basisszenario, das voraussichtlich zu dem niedrigsten Temperaturanstieg (3°C) führt, wird SSP1 („Sustainability-Taking the Green Road“) genannt. Beim SSP5-Szenario kommt bis 2100 mit einer Verzehnfachung (+1036%) zum stärksten Wachstum des globalen Pro-Kopf-Einkommens; beim SSP1 versechsfacht (+605%) sich das Pro-Kopf-Einkommen, wie man auf der Informationsplattform „Our World in Data“ sehen kann: Data Explorer IPCC Scenarios – GDP per capita. Allerdings berücksichtigen diese Szenarien nicht die Rückkopplungen, die von höheren Temperaturen auf die die wirtschaftliche Entwicklung ausgehen können. Zur Abschätzung dieses Effektes hat sich eine eigene Literatur herausgebildet, die der IPCC im aktuellen Bericht referiert (IPCC, 2022, S. 2495 – 2499, [27])). Darin findet sich auch die Metastudie von Nordhaus und Moffat (2017, [28]), die Ergebnisse aus 27 anderen Studien auswertet, um die durchschnittliche Auswirkung der Erderwärmung abzuschätzen. Dabei resultiert bis zum Jahr 2100 bei einen Anstieg der globalen Durchschnittstemperatur von 3°C ein um 2,04% (± 2,21%) niedrigeres globales Bruttoinlandsprodukt (BIP) und bei einem Anstieg der globalen Durchschnittstemperatur von 6°C ein um 8,06% (± 2,43%) niedrigeres BIP. Das BIP ist die Basis des verfügbaren Einkommens. Es ist mit vielen anderen Indikatoren der menschlichen Wohlfahrt, wie etwa Lebenserwartung, Bildungsniveau und Zufriedenheit, positiv korreliert. Legt man das Ergebnis von Nordhaus und Moffat (2017, [28]) zugrunde, kann man zu der Einschätzung gelangen, dass der Anstieg der globalen Durchschnitttemperatur auf die menschliche Wohlfahrt relativ gering ist. Regionale Disparitäten könnten aus dem Anstieg der globalen Pro-Kopf-Einkommen ausgeglichen werden. Aus rein anthropozentrischer Sicht wäre der intergenerative Zielkonflikt also eher klein. Wer jedoch aufgrund seines persönlichen Wertesystems keine rein anthropozentrische Nachhaltigkeitskonzeption vertreten möchte, wird auch die Auswirkung der Erderwärmung auf andere Spezies berücksichtigen wollen. Hier zeigen sich nach Einschätzung des IPCC deutlich erhöhte „Auswirkungen und Risiken“, wenn der Anstieg der globalen Durchschnittstemperatur 2°C übersteigt (IPCC, 2022b, S.16, Fig. SPM. 3, (c) & (d), [29]). Auf die Frage, wie sich der Temperaturanstieg auf das Artensterben auswirkt, gibt der Bericht die Antwort: „If climate change continues to worsen, it is expected to cause many more species to become extinct unless we take actions to improve the resilience of natural areas, through protection, connection and restoration“ (IPCC, 2022c, S.221, [30]). Wer also Anhänger einer eher biozentrischen Nachhaltigkeitskonzeption ist, wird aus diesem Befund stärkeren Handlungsbedarf ableiten als ein Anhänger einer eher anthropozentrischen Position.

Welche Antworten auf diese normativen Fragenstellungen man auch immer für richtig hält, man wird nicht beweisen können, dass es dazu nicht auch Alternativen gibt, die von anderen Menschen bevorzugt werden dürfen. Es zeigt sich also, dass es auch mit Blick auf die normativen Probleme der Klimapolitik kein allgemeinverbindliches „Zielwissen“ (HOCH-N, 2020, S.6, [3]) gibt. In freiheitlich-demokratisch verfassten Gesellschaften können solche Zielkonflikte offen diskutiert werden. Besteht Entscheidungsbedarf, entscheiden die Parlamente. Durch „Wissenschaft“ kann dieser demokratische Prozess nicht ersetzt werden. Die Wissenschaft kann durch Problembeschreibungen und Kausalanalysen lediglich Informationen in Form von Vermutungswissen liefern, das in die politischen Entscheidungsprozesse einfließt.

Literaturhinweise:

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