Kipppunkt-Wissenschaft: Die Stellungnahme der Deutschen Akademien der Wissenschaften zur Agrarpolitik

Erfahrungswissenschaftler, die aus den empirischen Befunden ihrer Forschungsarbeiten mit logischer Notwendigkeit politischen Handlungsbedarf ableiten wollen, stehen vor einem bekannten Problem, das der schottische Philosoph David Hume wohl als erster beschrieben hat: Aus einem „Sein“ kann mit logischer Notwendigkeit nie ein „Sollen“ abgeleitet werden (Sein-Sollen Dichotomie). Aus der Tatsachenbeschreibung „Es liegt eine Tafel Schokolade auf dem Tisch“ kann mit logischer Notwendigkeit weder der Satz „Die Schokolade soll gegessen werden“ noch der Satz „Die Schokolade soll nicht gegessen werden“ abgeleitet werden. In irgendeiner Form muss man immer eine normative Entscheidung treffen. Aus gesundheitsorientierter Sicht könnte man z.B. der Meinung sein, dass die Schokolade nicht gegessen werden soll, weil sie zu viel Fett und Zucker enthält. Aus genussorientierter Sicht könnte man der Meinung sein, dass das Nichtessen von Schokolade den Tatbestand der Ressourcenverschwendung erfüllt. Wer beide Sichtweisen für bedenkenswert hält, befindet sich in einem normativem Zielkonflikt und muss entscheiden, welche Sichtweise für ihn schwerer wiegt. So kann eine Tatsachenbeschreibung je nach persönlichen Präferenzen also zu ganz unterschiedlichen Reaktionen führen. Nicht jedem gefällt soviel subjektive Freiheit – insbesondere, wenn sie von anderen beansprucht wird.

Ein Trick den Erfahrungswissenschaftler mit politischen Ambitionen, in jüngster Zeit gerne anwenden, um die Hume’sche Dichotomie zu umgehen, nennt sich „Kipppunkt“. Die Potsdamer Klimaforscher Stefan Rahmsdorf und Joachim Schellhuber haben kürzlich zusammen mit fünf anderen Klimaforschern ein regelrechtes Kipppunkt-Manifest veröffentlicht. Darin heißt es in neutraler Google-Übersetzung: „Aus unserer Sicht hilft die Berücksichtigung von Kipppunkten zu definieren, dass wir uns in einem Klimanotfall befinden und stärkt den diesjährigen Appell zu dringenden Klimaschutzmaßnahmen – von Schulkindern über Wissenschaftler bis hin zu Städten und Ländern„. Es geht diesen Wissenschaftlern also nicht mehr nur darum, Sachverhalte mit hinreichender wissenschaftlicher Zuverlässigkeit zu beschreiben, sondern darum, diese Sachverhalte so zu beschreiben, dass Appelle von bestimmten gesellschaftlichen Gruppen „gestärkt“ werden.

Ganz ähnlich gehen die deutschen Akademien der Wissenschaften in ihrer jüngsten Stellungnahme zum Thema „Biodiversität und Management von Agrarlandschaften“ vor. Sie kommen in Ihrer Stellungnahme zu dem besorgniserregenden Ergebnis: „Es besteht akuter Handlungsbedarf: Der Rückgang der biologischen Vielfalt in der Agrarlandschaft ist so dramatisch, dass in Zukunft ernsthafte Folgen für die Funktionsfähigkeit der Agrarökosysteme und für das Wohlergehen des Menschen zu erwarten sind. Daher muss schnellstmöglich und effektiv gehandelt werden“ (DAW (2020), S. 47). Die Funktionsfähigkeit der Agrarökosysteme steht demnach also auf der Kippe. Es fehlt nicht mehr viel und alles bricht zusammen!

Erstaunlicherweise zeigen die Produktionsdaten der Landwirtschaft das Gegenteil: Trotz des „dramatischen Rückgangs“ der Insektenbestände von 76 Prozent über den Zeitraum 1989 bis 2016 (Hallmann et al. (2017)), wächst die landwirtschaftliche Produktion in Deutschland und Europa nach wie vor trendmäßig ungebremst stark (Schaubild). Auch in den USA, in denen der Rückgang der Bestände von Landinsekten nach einer Studie von Klink et al. (2020, Fig. 2B) noch stärker ausfällt als in Europa, erfreut sich die landwirtschaftliche Produktion eines stetigen Wachstums bei gleichzeitigem Rückgang der genutzten Ackerfläche (Schaubild). Und trotz aller Kipppunkt-Rhetorik liefern die Akademien keinerlei empirische Evidenz dafür, dass es einen kritischen Schwellenwert für Insektenbestände gibt, bei dessen Unterschreitung die Agrarökosysteme schlagartig zusammenbrechen.

Schaut man sich dann die verfügbaren Daten zur empirischen Entwicklung der Artenvielfalt an, so kann man eigentlich nur feststellen, dass sich der Rückgang im Vergleich zu den siebziger und 80er Jahren eher deutlich verlangsamt hat, als dass „die Agrarlandschaft seit geraumer Zeit in besonderem Maße von einem dramatischen Rückgang (DAW (2020), S. 2)“ betroffen wäre. Die Akademien präsentieren auf Seite 11 ein Schaubild, das einen Rückgang des Bestandes der Vögel der Agrarlandschaft von 31,5 Prozentpunkten seit 1990 zeigt. Die Daten werden von einer Agentur der EU-Kommission (EBCC) gesammelt und veröffentlicht. Der von den Akademien gewählte Ausschnitt dramatisiert die Entwicklung. Sieht man sich die insgesamt verfügbaren Daten an (Schaubild), so zeigt sich, dass der stärkste Rückgang des Bestandes der Vögel in der Agrarlandschaft mit 36,2 Prozentpunkten (auf jährlicher Basis 4,4%) in den 80er Jahren stattfand. Seitdem hat sich der jährliche Rückgang deutlich verlangsamt. In den letzten 10 Jahren des Betrachtungszeitraums (2008-2018) betrug er noch 3,2 Prozentpunkte (auf jährlicher Basis 0,7%) mit weiter abnehmender Tendenz. Schaut man auf die gleichen Zahlen für Deutschland (Schaubild), die vom Umweltbundesamt dem EBCC zur Verfügung gestellt werden, so zeigt sich, dass der Bestand der Vögel der Agrarlandschaft in den vergangenen zehn Jahren nicht mehr weiter gesunken ist. Die stärksten Rückgänge fanden auch in Deutschland in den 70er und 80er Jahren statt. Der Bestand an Vögeln des Waldes, der Binnengewässer und der Siedlungen ist in den letzten zehn Jahren sogar gestiegen. Der Bestand an Waldvögeln liegt mittlerweile sogar wieder über dem Wert von 1970.

Bei der Analyse der Entwicklung der Insektenbestände orientieren sich die Akademien an der bekannten Studie von Hallmann et al. (2017) auf Basis der Daten des Entomologischen Vereins Krefeld. Danach sind die Bestände von Fluginsekten gemessen anhand der Biomasse in deutschen Naturschutzgebieten von 1989 bis 2016 im Mittel um 76% gesunken. Auch hier zeigt sich, dass am aktuellen Rand seit 2007 eher eine Stabilisierung als ein weiterer „dramatischer Rückgang“ stattfindet (Schaubild). Die Akademien verweisen auf eine weitere Studie von Seibold et al. (2019), die auf Erhebungen für die Jahre 2008 bis 2017 in Deutschland beruht. Hier beträgt die jährliche Schrumpfungsrate 11,6%. Umgerechnet um gerechnet auf den Zeitraum von 1989 bis 2016 hätte es dann einen Rückgang von -96% geben müssen. Allerdings hängt die höhere jährliche Schrumpfungsrate von Seibold et al. (2019) sehr stark von dem hohen Messwert für das Jahr 2008 ab (Schaubild), wie die Autoren der Studie selbst herausgefunden haben. Vergleicht man die Schaubilder der beiden Studien, erkennt man, dass der sehr hohe Messwert für 2008 von Seibold et al. (2019) sich nicht mit mit einem ähnlich hohen Ausreißer in der Studie von Hallmann et al. (2017) deckt. Beide Schaubilder zeigen aber, dass sich über die letzten 10 Jahre die Entwicklung der Bestandszahlen stabilisiert hat. In einer Metastudie von van Klink et al. (2020), in der 166 Einzelstudien an weltweit 1676 Standorten mit einer Median Zeitspanne von 15 Jahren ausgewertet wurden, wird eine durchschnittliche jährliche Veränderung von -0,9% ermittelt. Die Akademien erwähnen die erheblichen quantitativen Unterschiede der verschiedenen Studien nicht (Hallmann et al. (2017): -76 %, Seibold et al. (2019): -96%, Klink et al. (2020): -22%). Unerwähnt lassen die Akademien auch, dass Klink et al. (2020) in ihrer Metastudie weltweit ein signifikant positives Wachstum der Bestände von Süßwasserinsekten von 1,1% pro Jahr gefunden haben – obwohl der Gewässerschutz in der agrarpolitischen Debatte derzeit eine wichtige Rolle spielt. „Kipppunkt Wissenschaft“ scheint also sehr viel mit einem Phänomen zu tun haben, das man in der Psychologie als „selektive Wahrnehmung“ bezeichnet.

Ausgehend von ihrem empirischen Befund und der Annahme, dass ein „ein gesellschaftlicher Konsens [besteht], dass die biologische Vielfalt für künftige Generationen zu erhalten ist, selbst wenn deren tatsächlicher Wert im Einzelnen heute noch strittig oder nicht bekannt ist“ (DAW (2020), S. 18) kommen die Akademien dann zu dem Ergebnis, dass dieses Ziel nur über eine Extensivierung der Landwirtschaft in Richtung ökologischer Landwirtschaft, erreicht werden kann (DAW (2020), S. 50). Dazu zitieren sie Studien, die belegen, dass auf ökologisch bewirtschafteten Agrarflächen eine höhere Biodiversität herrscht als auf konventionell bewirtschafteten Flächen, wie z.B. Geiger et al (2010) und Lüscher et al. (2014). Das dürfte in der Literatur in der Tat weitgehender Konsens sein. Unerwähnt lassen die Akademien aber Studien, die darauf hinweisen, dass diese Biodiversitätsgewinne nicht ausreichen, um die Biodiversitätsverluste durch den höheren Flächenverbrauch der ökologischen Landwirtschaft zu kompensieren (Mondelaers et al. (2009), Gabriel et al. (2013), Schneider et al. (2014)). Die Autoren Gabriel et al. (2013, S.1) fassen ihren Befund beispielsweise wie folgt zusammen „Die Getreideproduktion pro Flächeneinheit ist in der biologischen Landwirtschaft im Vergleich zur konventionellen um 54% niedriger. Korrigiert man die Ergebnisse um diese Ertragsunterschiede so unterscheidet sich die Vielfalt der Hummeln, Schmetterlinge, Schwebfliegen und Landinsekten zwischen konventioneller und ökologischer Landwirtschaft nicht. Das bedeutet, dass die beobachteten Unterschiede in der biologischen Vielfalt zwischen ökologisch und konventionell bewirtschafteten Feldern durch die niedrigeren Erträge auf den ökologisch bewirtschafteten Feldern aber nicht durch die unterschiedliche Bewirtschaftungsform an sich erklärt werden [Übersetzung d.Verf.].“ Es ist also nicht sicher, ob ein Übergang zur ökologischen Landwirtschaft per saldo zu einer höheren Biodiversität führen wird. Um die gleiche Menge landwirtschaftlicher Güter herzustellen, müsste dabei die Produktionsfläche ausgedehnt werden. Der daraus resultierende Naturverbrauch würde sich negativ auf die Biodiversität auswirken. Dem steht die etwas höhere Biodiversität auf ökologisch bewirtschafteten Feldern im Vergleich zu konventionell bewirtschafteten Feldern gegenüber. Wie man mathematisch zeigen kann, führt konventionelle Landwirtschaft per saldo zu einer höheren Biodiversität, wenn auf den renaturierten Flächen eine deutlich höhere Biodiversität als auf den für ökologische Landwirtschaft genutzten Flächen herrscht. Es spricht einiges dafür, dass dies in der Regel der Fall ist.

Im Durchschnitt ergibt sich in der ökologischen Landwirtschaft ein höher Flächenverbrauch je Ertragseinheit von etwa 25%, wie ein Übersichtsstudie von Meemken et al. (2018) zeigt (Tabelle). Die Schätzung dieser Ertragslücke beruht jedoch auf auf Experimentaldaten eines Ökolandbaus „bester Praxis“. Das Wissen dazu ist in weniger entwickelten Ländern aber typischerweise nicht vorhanden, so dass der zusätzliche Flächenverbrauch dort auch bei 50% oder mehr liegen könnte. Auch in Deutschland sprechen Berichte aus der landwirtschaftlichen Praxis (Die Zeit (2013)) dafür, dass die tatsächliche Ertragslücke deutlich größer sein könnte als 25%. Eine Studie von Treu et al. (2017) kommt auf Basis von Daten der Nationalen Verzehrstudie II zu dem Ergebnis, dass der Flächenverbrauch bei einer überwiegend ökologischen Ernährung ist in Deutschland rund 40% höher als ist, als der Flächenverbrauch bei konventioneller Ernährung. Auch diese Studie wird von den Akademien nicht erwähnt. Mit ein wenig Mathematik kann man zeigen, dass die biologische Landwirtschaft per saldo nur dann besser für die Biodiversität ist, wenn die relative Biodiversitätslücke der konventionellen Landwirtschaft größer ist als die relative Ertragslücke der biologischen Landwirtschaft. Aus empirischer Sicht spricht einiges dafür, dass diese Bedingung in der Regel nicht erfüllt ist, wenn die von der konventionellen Landwirtschaft ermöglichten Flächeneinsparungen zugunsten der Biodiversität renaturiert werden.

Die Ertragslücke der ökologischen Landwirtschaft würde dazu führen, dass bei einem vollständigem Übergang zur ökologischen Landwirtschaft, der weltweite Agrarflächenbedarf um mindestens 23,25 % steigen würde, da derzeit erst 1,4% der globalen landwirtschaftlichen Nutzfläche ökologisch bewirtschaftet wird. Bei einer Ertragslücke von 50% wären es 48%. Derzeit werden etwa 50% der eisfreien Landfläche der Erde landwirtschaftlich genutzt (Abbildung). Bei einem Übergang zur ökologischen Landwirtschaft würde der Anteil der Landwirtschaft also mindestens auf 50% * 1,23 = 61,5% steigen. Nach den Bevölkerungsprognosen der Vereinten Nationen (2019) wird die Weltbevölkerung von 2020 bis 2050 um rund 25% und bis 2100 um rund 40% wachsen. Ab dem Jahr 2100 wird dann aufgrund des demographischen Paradoxons mit einem langsamen Rückgang der Weltbevölkerung gerechnet. Da der Produktivitätsfortschritt in der ökologischen Landwirtschaft aufgrund des Verbotes von Kunstdünger, synthetischen Pflanzenschutzmitteln und genetisch modifizierter Organismen sehr begrenzt sein dürfte, wäre bei einem vollständigem Übergang zur ökologischen Landwirtschaft also mindestens mit einem Anstieg der landwirtschaftlichen Nutzfläche bis 2050 auf ungefähr 61,5% * 1,25 = 76,9% und bis 2100 auf 61,5% * 1,4 = 86,1% zu rechnen. Dann könnten langfristig also nur 14% der bewohnbaren Landfläche der Erde der Natur überlassen bleiben. Der Plan, 30% der Landfläche unter Naturschutz zu stellen, zu dem sich gerade unter Mitwirkung von Bundeskanzlerin Merkel die „High Ambition Coalition for Nature and People“ bekannt hat, wäre bereits vor 2050 nicht mehr realisierbar.

Eine einfache Fortschreibung des Flächenbedarfes auf Basis der Bevölkerungsentwicklung ist jedoch sehr konservativ. Realistischerweise muss man davon ausgehen, dass die Pro-Kopf Einkommen ebenfalls steigen werden und deshalb auch die Pro-Kopf Nachfrage nach Lebensmitteln. Die FAO geht in ihrer mittleren Projektion, umgerechnet auf den Zeitraum 2020 – 2050, von einem Anstieg der Lebensmittelnachfrage von 33,4% aus; die meisten Prognosen in der Fachliteratur liegen jedoch noch darüber in einem Intervall von 36,2% bis 57,7% (Valin et al. (2013)). Es ist kaum vorstellbar, dass ein solcher Nachfrageanstieg durch eine weitere Extensivierung auf Basis der ökologischen Landwirtschaft befriedigt werden kann. Ebenso wenig ist es vorstellbar, dass die zunehmende Zahl von Menschen, denen es weltweit gelingen wird, die Armut zu überwinden, sich begeistert dem Appell der deutschen Akademien der Wissenschaften anschließen werden, weniger Fleisch zu konsumieren (DAW (2020), S. 57). Seltsamerweise haben sich die Akademien mit dieser Problematik in ihrer Stellungnahme nicht auseinandergesetzt.

Auf der Basis konventioneller Landwirtschaft spricht einiges dafür, dass die wachsende Weltbevölkerung mit ausreichender Nahrung versorgt werden könnte, ohne dass dazu der Bedarf an landwirtschaftlicher Nutzfläche steigen müsste. Der jährliche Produktionsanstieg lag in diesem Zeitraum im Durchschnitt über alle Feldfrüchte gemessen bei 1,65% (Schaubild). Trotzdem sank die zur Produktion notwendige Ackerfläche jährlich um 0,47%. Gemessen an der höchsten Prognose des Nachfrageanstiegs aus (Valin et al. (2013)), resultiert ein jährlicher Anstieg der Lebensmittelnachfrage von (1+0,577)^(1/30)-1 = 1,53%. Das würde also bedeuten, dass beim Einsatz konventioneller Landwirtschaft Spielraum bestünde, die Nahrungsmittelversorgung zu verbessern und gleichzeitig die landwirtschaftliche Nutzfläche zu reduzieren – selbst dann wenn es nicht zu einem weiteren Produktivitätsfortschritt in der Landwirtschaft kommt. Das Projekt der „High Ambition Coalition for Nature and People“ wäre also durchaus noch realisierbar.

Allerdings wurde dieser Produktivitätszuwachs der Ackerfläche in den USA mit einem jährlichen Anstieg des Düngemitteleinsatzes von 1,8% und einem jährlichen Anstieg des Einsatzes von Pestiziden und Herbiziden von 6% erzielt (US-Department of Agriculture (2020); eine Verdopplung des Einsatzes von Pflanzenschutzmitteln seit 2010 ging mit einem verstärkten Übergang zum erosionsverhinderndem Zero-Tillage Farming einher, wodurch sich auch der starke Rückgang des Energieverbrauches in diesem Zeitraum erklärt). Es ist fraglich, ob diese Entwicklung so weiter gehen wird. Wahrscheinlicher dürfte es sein, dass die Möglichkeiten der Gentechnik in der Zukunft verstärkt genutzt werden, um den Bedarf an Düngemitteln und den Pestiziden zu senken. Eine Reduzierung des Düngebedarfes könnte z.B. durch den Einbau der entsprechenden Gene von Leguminosen (Hülsenfrüchte die über eine Symbiose mit Knöllchenbakterien atmosphärischen Stickstoff aufnehmen können) in Nutzpflanzen erfolgen; eine Reduzierung des Pestizidbedarfes wird bereits heute erfolgreich mit dem Anbau sogenannter Bt-Baumwolle praktiziert. Schon heute kann durch den Anbau genetisch veränderter Pflanzen (vor allem beim Anbau von Sojabohnen, Mais und Baumwolle) der Ernteertrag um 22% gesteigert und der Pestizideinsatz um 37% reduziert werden, wie eine Metaanalyse von 147 Einzelstudien von Klümper et al. (2014) zeigt. Es ist damit zu rechnen, dass dies erst der Beginn einer Entwicklung ist, die in den kommenden Jahrzehnten zu erheblichen weiteren Fortschritten führen wird. Trotz dieses Potentials der Gentechnik und der vielfältigen Perspektiven, die Genom-Editierung für die Pflanzenzucht bietet, findet sich das Wort „Gentechnik“ oder „CRISPR/Cas“ in der Stellungnahme der Akademien der Wissenschaften nicht. Lediglich in Zusammenhang mit der Berücksichtigung von Gefahren für die biologische Vielfalt, taucht der Begriff „genetisch modifizierte Organismen“ auf. Spätestens hier drängt sich der Eindruck auf, dass die Akademien sich eher von den Dogmen des Ökologismus als von den Prinzipien einer ideologiefreien Wissenschaft leiten lassen.

Geht man, wie die Akademien, davon aus, dass es gesellschaftlicher Konsens ist, die biologische Vielfalt künftigen Generationen zu erhalten, wäre eigentlich die die Frage, mit welchen agrarpolitischen Strategien dieses Ziel erreicht werden kann. Doch eine offene Diskussion der Vor- und Nachteile unterschiedlicher agrarpolitischer Strategien bieten die Akademien in ihrer Stellungnahme nicht. Die Strategie der Akademien zielt im Wesentlichen auf eine Umlenkung bisheriger Agrarsubventionen in die Förderung der ökologischen Landwirtschaft (DAW (2020), S. 50). Die von den Akademien angestrebte weitere Extensivierung der landwirtschaftlichen Produktion würde den derzeitigen Flächenverbrauch in Deutschland dauerhaft auf hohem Niveau festschreiben. Eine Alternative zur Strategie der Akademien bestünde in einer Intensivierung der Produktion bei gleichzeitiger Renaturisierung der dabei durch den Produktivitätsfortschritt freigesetzten Flächen. Eine solche Intensivierung könnte z.B. durch eine Besteuerung der Nutzung von landwirtschaftlicher Nutzfläche erfolgen. In der aktuellen Situation würde dies also einem Abbau von Agrarsubventionen erfordern. In einer Simulationsstudie kommen Brady et al. (2017) zu dem Ergebnis, dass bei einer Streichung der sogenannten „Direktzahlungen“ die Nutzung landwirtschaftlicher Produktionsflächen in der EU um 6.5 Prozent sinken würde. Ein Abbau der indirekten Subventionierung über die Nachfragewirkung der EU-Biokraftstoffrichtlinie würde eine weitere Reduzierung der Flächennachfrage bewirken. In Deutschland hat die Anbaufläche für „nachwachsende Rohstoffe“ mittlerweile einen Anteil von etwa 15% an der landwirtschaftlichen Nutzfläche erreicht (BEMEL (2015), BMEL (2020)). Die Nutzung landwirtschaftlicher Produktionsflächen zur Energiegewinnung in Europa ist sowohl aus ökologischer (Melillo et al. (2009), Whitaker et al. (2018), Kolecek et al. (2015), Praus und Weidinger (2015), Everaars et al. (2014)) als auch aus ökonomischer ((Thünen-Institut, Leopoldina (2013)) Sicht nicht sinnvoll.

Mit einem Teil der freiwerdenden Subventionsmittel könnte der Staat zusammenhängende Flächen erwerben und auf der Basis ökologischer Landschaftskonzepte renaturieren. Um typischen Spezies der Steppe Rückzugflächen zu bieten, könnte dazu auf Konzepte zurückgegriffen werden, die bereits bei der Pflegenutzung von Heidelandschaften praktiziert werden. Auch experimentelle Konzepte, wie sie etwa in holländischen Naturentwicklungsgebieten erprobt werden, könnten angewendet und weiterentwickelt werden.

Chancen und Risiken verschiedener Strategien müssen immer gegeneinander abgewogen werden; Art und Umfang des Artenschutzes müssen festgelegt werden. Das geht nicht, ohne normative Bewertungen zu treffen. Dies ist jedoch nicht Aufgabe der Wissenschaft. Die Wissenschaft hat kein allgemein anerkanntes Verfahren zum Treffen normativer Entscheidungen (s. Sein-Sollen Dichotomie). Sie kann die in Frage kommenden Alternativen lediglich beschreiben und auf mögliche Zielkonflikte hinweisen. Die Entscheidung muss aber letztlich der Souverän treffen. Nach Artikel 20 GG ist der Souverän in Deutschland das Volk, das von den gewählten Parlamenten in der Gesetzgebung repräsentiert wird. Der Stellungnahme der Akademien fehlt ein klares Bekenntnis zu diesem Prinzip. Appelle an den Souverän zur Verhaltens- und Bewusstseinsänderung fallen den Akademien offensichtlich leichter als eine politische Selbstbescheidung: „Ein nachhaltiger Schutz der Biodiversität ist allerdings nur mit einem grundlegenden gesellschaftlichen Wandel zu erreichen, weshalb nicht nur die landwirtschaftlichen Betriebe, die Agrar- und Umweltpolitik und das Agrar- und Umweltrecht einbezogen werden sollten, sondern auch Bildung, Werte, Handel, Märkte, Konsum und Wissenschaft in den Blick genommen werden müssen“ (DAW (2020), S. 47-48). Man kann bezweifeln, ob die Akademien mit dieser Art von „Kipppunkt-Wissenschaft“ die gesellschaftliche Akzeptanz für wissenschaftliche Beratung erhöhen werden.

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