Der Mythos von den „großen Herausforderungen“

Maurer, Rainer (2017), Ist angesichts sogenannter „Großer gesellschaftlicher Herausforderungen“ ein Umbau des Wissenschaftssystems erforderlich?, Aufklärung und Kritik, 24 (1), S.127-143, Nürnberg.

Vortrag für das Hotspot-Symposium „Die Rolle der Hochschule in der Gesellschaft“

In der Verfilmung des Romans „Er ist wieder da“ hält der wiedererstandene Adolf Hitler eine bizarre Fernsehansprache, bei der das Publikum augenscheinlich stark verunsichert ist, ob es sich dabei um eine Parodie oder um eine Lagebeschreibung handelt: „Kinderarmut, Altersarmut die Geburtenraten so tief wie noch nie, wer will in dieses Land noch ein Kind setzen. Wir rasen auf den Abgrund zu aber wir erkennen ihn nicht…“ Die Drehbuchautoren haben offensichtlich klug analysiert, wie populistische Propaganda funktioniert: Hitler bündelt ein verbreitetes Unbehagen indem er einige Schlagwörter aus aktuellen Debatten aufgreift, einen irgendwie gearteten latenten Zusammenhang zwischen diesen Problembereichen suggeriert und sich selbst als die Lösung präsentiert.

Die aktuelle Debatte um sogenannte „große Herausforderungen“ funktioniert, wie es scheint, nach einem sehr ähnlichen Schema. Man nimmt ein Bündel von – bei genauerer Betrachtung höchst unterschiedlichen Problembereichen – suggeriert einen irgendwie gearteten geheimnisvollen Zusammenhang und fordert als Lösung, eine Zerschlagung der bewährten, auf Wilhelm von Humboldt zurückgehenden Konzeption von Hochschule in eine sogenannte „transformative Hochschule“. In  einer  derart transformierten  Hochschule  wäre dann  „transformatives  Lernen“ möglich: „In der individuellen Dimension bedeutet transformatives Lernen zunächst einen tiefen strukturellen Wandel  in  den  grundlegenden  Gedanken, Gefühlen  und Handlungen.  Es  ist  eine Veränderung  des  Bewusstseins,  die  unsere Art ‚in der Welt zu Sein‘ fundamental  und  dauerhaft  umbaut.  Solch  eine Veränderung  berührt unser  Verständnis über  uns  Selbst,  unsere  eigene  Rolle, unsere  Beziehungen  zu  anderen  Menschen und zur Natur“. Das Zitat stammt aus einer vielbeachteten hochschulpolitischen Schrift von Uwe Schneidewind und Mandy Singer-Brodowski „Transformative Wissenschaft Klimawandel im deutschen Wissenschafts- und Hochschulsystem“.

Im meinem Artikel „Ist angesichts sogenannter „großer gesellschaftlicher Herausforderungen“ ein Umbau des Wissenschaftssystems erforderlich?“ gehe ich der Frage nach, ob sich aus diesen sogenannten „großen gesellschaftlichen Herausforderungen“ tatsächlich sachlogische Argumente für einen Umbau des Wissenschaftssystems ableiten lassen. Dabei werden fünf sogenannte „große Herausforderungen“ näher untersucht: Klimawandel, Verlust von Ökosystemen, Demographische Probleme, Wachsende Ökonomische Instabilität, Zunehmende globale Ungleicheit und extreme Armut.

Wie eine genauere Analyse zeigt, handelt es sich bei diesen „großen Herausforderungen“ um ein Bündel sehr heterogener Probleme, die keine zusammenhängende Kausalstruktur erkennen lassen. Aus keinem dieser Probleme kann bei näherer Betrachtung eine Notwendigkeit zum Umbau des Wissenschaftssystems abgeleitet werden. Bei allen Problemen zeigt sich primär politischer Handlungsbedarf. Es ist demnach vor allem die Politik, die sich diesen „großen Herausforderungen“ stellen muss. Forderungen nach einer Instrumentalisierung des Wissenschaftssystems zur Initiierung eines „gesellschaftlichen Wertewandels“, wie zuletzt auch von Teilen des Deutschen Wissenschaftsrates erhoben, entbehren deshalb einer sachlichen Grundlage. Es scheint viel mehr, dass die Apologeten der „tranformatorischen Hochschule“ sich diverser Probleme als Angelpunkt für eine „Huckepack-Strategie“ bedienen, mit der ein ganz bestimmtes weltanschauliches Anliegen zur Aufgabe staatlich finanzierter Institutionen gemacht werden soll.

Dies widerspricht aber der Konzeption einer pluralistisch  verfassten, freiheitlichen  Gesellschaft, deren Mitglieder über konstitutionell garantierte Grundrechte verfügen, die es ihnen erlauben, im Rahmen der verfassungsmäßigen Ordnung ihre eigenen Wertvorstellungen zu wählen und öffentlich zu vertreten.  Meinungsbildung und Wertediskussion finden in dieser Gesellschaftsform in der Öffentlichkeit, den Medien und in den Parlamenten statt. Die Regierung und die ihr unterstellte Verwaltung vollziehen als Exekutive die Beschlüsse der Parlamente, die von den Bürgern gewählt werden. Es ist nicht Aufgabe der Regierung quasi als „Edukative“ mit  öffentlich  finanzierten  Mitteln Einfluss auf die politische Gesinnung der Bürger zu nehmen.

Maurer, Rainer (2017), Ist angesichts sogenannter „Großer gesellschaftlicher Herausforderungen“ ein Umbau des Wissenschaftssystems erforderlich?, Aufklärung und Kritik, 24 (1), S.127-143, Nürnberg.

Ein Kommentar zu „Der Mythos von den „großen Herausforderungen“

Hinterlasse einen Kommentar

Diese Seite verwendet Akismet, um Spam zu reduzieren. Erfahre, wie deine Kommentardaten verarbeitet werden..