Sind Unternehmensinvestitionen in Billiglohnländern ein Grund „fuchsteufelswild“ zu werden?

Viele Forderungen der „occupy“-Protester zielen auf einer bessere Regulierung des Finanzsektors. Es ist sicherlich leichter, solche Forderungen aufzustellen, als neue Regeln zu finden, die tatsächlich die gewünschte Wirkung haben. Man kann mit guten Gründen bezweifeln, ob ein Steuersatz von 0,1 Prozent auf den Umsatz mit Wertpapieren tatsächlich hilft, unerwünschte Spekulationsblasen zu verhindern. Vieles spricht dafür, dass er vielmehr dem wohlbekannten Reflex der Fiskalpolitik, jede sich bietende Gelegenheit zur Verbreiterung der Steuerbasis zu nutzen, entspringt. Man wird jedoch vor dem Hintergrund der Erfahrungen mit der Finanzmarktkrise kaum bestreiten können, dass eine bessere Regulierung des Finanzsektors jetzt auf der Agenda stehen muss.  Nicht alle Forderungen der Protestbewegung zielen jedoch auf eine Verbesserung der Finanzmarktregulierung. Viele Forderungen sind älteren Datums und es sieht so aus, als ob sie von politischen Gruppierungen, die in grundsätzlicher Opposition zu einer marktwirtschaftlichen Organsisation des Wirtschaftssystems stehen, in die „occupy“-Bewegung eingebracht worden sind. Ein solcher Evergreen der Kapitalismuskritik ist die moralische Entrüstung über Unternehmen, die das Lohngefälle zwischen entwickelten und unterentwickelten Ländern ausnutzen, um ihre Gewinne zu maximieren. Wolfram Siener, Pressesprecher der deutschen „occupy“-Bewegung, hat nun schon mehrfach zu Protokoll gegeben, dass ihn derartiges Verhalten „fuchsteufelswild“ macht (Spiegel-Online). Solche Adjektive sind wichtig in der medialen Wahrnehmung, weil sie Authentizität und Betroffenheit signalisieren. Was aber ist tatsächlich dran an der These, dass das am reinen Gewinnstreben orientierte Ausnutzen von Lohndifferenzen durch Unternehmen ethisch unverantwortbar ist?

Bewegt man sich mit seinem persönlichen Wertesystem jenseits einer reinen Gesinnungsethik, so wird man die Antwort auf diese Frage wohl bei den Konsequenzen derartigen Handelns suchen müssen. Geht man dabei vom Standardmodell einer Marktwirtschaft aus, so führt eine Verlagerung der Arbeitsnachfrage von Hochlohnländern in Niedriglohnländer zu einem Rückgang der Arbeitsnachfrage in den Hochlohnländern und zu einem Anstieg der Arbeitsnachfrage in den Niedriglohnländern. In der Folge steigen also aufgrund der höheren Arbeitsnachfrage die Löhne in den Niedriglohnländern  im Vergleich zu den Löhnen in den Hochlohnländern. Tendenziell setzt also eine Angleichung der Löhne zwischen beiden Ländergruppen ein. Da die erhöhte Nachfrage nach Arbeitskräften erhöhte Investitionen in den  Aufbau von Produktionsstätten erfordert, geht dieser Angleichungsprozess der Löhne auch mit einer verstärkten Investitionstätigkeit in Niedriglohnländern einher. Durch die verstärkten Investitionen steigt die Kapitalintensität der Produktion in den Niedriglohnländern, so dass die Arbeitsproduktivität steigt. Die erhöhten Investitionen legen also die produktionstechnische Basis für die höheren Löhne. Im Ergebnis kommt es also zu einer Verlagerung von Produktion und Einkommen aus den entwickelten Ländern in die unterentwickelten Länder. Gewinner dieser vom Gewinnmaximierungsstreben der Unternehmen angetriebenen Entwicklung sind also Arbeitnehmer der unterentwickelten Länder, während Arbeitnehmer in den entwickelten Ländern aufgrund einer geringeren Arbeitsnachfrage und des Abflusses von Investitionen auf der Verliererseite stehen. Es handelt sich also, ähnlich wie beim Übergang von Autarkie zu Freihandel, nicht um eine Pareto-Verbesserung.

Ist dieses Ergebnis des marktwirtschaftlichen Entwicklungsprozesses nun aus ethischer Sicht verwerflich?  Ökonomen vermeiden gerne solche Fragen, denn natürlich hängt auch die Antwort auf diese Frage davon ab, welche Spielart der Ethik man seinen Überlegungen zugrunde legt und eine wissenschaftlich begründete allgemeingültige Ethik kann es aufgrund des Begründungstrilemmas der Ethik nicht geben. Im Kern geht es hier um eine Abwägung der Interessen der Arbeitnehmer in den entwickelten Ländern mit den Interessen der Arbeitnehmer in den unterentwickelten Ländern. Wie stark gewichtet man den beschleunigten Einkommenszuwachs in den unterentwickelten Ländern im Vergleich zu dem verlangsamten – und bei niedrig qualifizierten Arbeitskräften möglicherweise sogar negativem – Einkommenszuwachs in den entwickelten Ländern? Man kommt bei der Beantwortung dieser Frage also nicht um die Unterstellung einer sozialen Nutzenfunktion herum, mit der man individuellen Nutzen gegeneinander verrechnen kann. Die Frage, wie die Gewichte für die unterschiedlichen Arbeitnehmergruppen in dieser Nutzenfunktion zu wählen sind, ist damit letztlich eine subjektive Entscheidung und kann deshalb nicht allgemeinverbindlich beantwortet werden. Ich würde aber vermuten, dass eine Höhergewichtung des Nutzens von Arbeitnehmern mit  sehr niedrigem Einkommen mit den Wertvorstellungen weiter Teile unserer Gesellschaft vereinbar ist, möglicher gerade auch bei Anhängern der „occupy“-Protestbewegung. Die Chancen, dass das hier beschriebene Marktergebnis gesellschaftlich konsensfähig ist, sollten also  so schlecht nicht stehen.

Eine andere wichtige Frage, die sich in diesem Zusammenhang aber natürlich stellt, ist ob die bei der Ableitung des Marktergebnisses verwendete Theorie die Daten annähernd richtig beschreibt. Es bietet sich an, dieser Frage anhand der Erfahrungen von Entwicklungsländern nachzugehen, die ihre Volkswirtschaften für den  internationalen Handel mit Gütern und Produktionsfaktoren geöffnet haben. In den siebziger Jahren waren dies vor allem die sogenannten südostasiatischen „Tigerstaaten“ Hong Kong, Südkorea, Singapur und Taiwan. Schaubild 1 zeigt das Lohnniveau dieser Länder gemessen in US-Dollar im Vergleich zu dem entwickelter Länder. Die Daten stammen vom US Bureau of Labor Statistics und wurden basierend auf den Definitionen der International Labor Organisation in vergleichbarer Form erhoben. Das Schaubild macht deutlich, dass die Löhne dieser Länder damals nur einen Bruchteil des Lohnniveaus der entwickelten Länder erreichten. Es waren also klassische „Billiglohnländer“.

Schaubild 1

Es ist bekannt, dass damals viele Unternehmen aus den entwickelten Ländern die wirtschaftliche Öffnung dieser Länder nutzten, um von diesen niedrigen Lohnniveaus zu profitieren. Ganze Teile der Leichtindustrie, in Deutschland vor allem die Textilindustrie, wurden nach Südostasien verlagert. Schaubild 2 zeigt, dass dieser Prozess mit einem erheblichen Anstieg der Reallohnniveaus in diesen Ländern einhergegangen ist (Um den Einfluss von Wechselkursschwankungen auszuschließen, wurden in Schaubild 2 die Nominallohnniveaus der Länder in heimischer Währung mit dem jeweiligen Deflator des Bruttoinlandsproduktes deflationiert und  durch das jeweilige Niveau des Ausgangsjahres 1975 dividiert). Es zeigt sich deutlich, dass gerade die Länder, die 1975 das niedrigste Lohnniveau hatten, Südkorea und Taiwan, den stärksten Reallohnzuwachs in diesem Zeitraum erfahren haben. Das Reallohnniveau in Deutschland ist in diesem Zeitraum deutlich langsamer gewachsen. Es ist also in der Folge der wirtschaftlichen Öffnung der südostasiatischen Länder zu einem klaren Aufholprozess bei den Reallöhnen gekommen.

Schaubild 2

Schaubild 3 zeigt, dass, wie von der Theorie impliziert, eine erhöhte Investitionstätigkeit, hier gemessen an der Investitionsquote in Prozent des Bruttoinlandsproduktes im Durchschnitt der Jahre  1975 bis 2009, diesen Prozess begleitet hat. Natürlich kann man nicht erwarten, dass die Korrelation zwischen Reallohnwachstum und Bruttoinvestitionen bei 100% liegt. Neben den von der Bruttoinvestitionsquote gemessenen Sachkapitalinvestitionen spielen auch immaterielle Investitionen in Humankapital, technologisches Wissen und effizienzsteigernde Institutionen bei solchen Prozessen eine wichtige Rolle. Das Schaubild zeigt aber, dass Unterschiede in der Bruttoinvestitionsquote auch einen wichtigen Teil der Unterschiede im Reallohnwachstum zwischen den entwickelten Ländern erklären können.

Schaubild 3

Anfang der 90er Jahre waren es die Mitgliedsländer des ehemaligen Ostblocks, die sich für den internationalen Handel mit Gütern und Produktionsfaktoren öffneten. In der ersten Hälfte der 90er Jahre kam es im Gefolge der Transformation dieser Länder von der Planwirtschaft zur Marktwirtschaft zu einer schweren Anpassungsrezession. Ab Mitte der 90er Jahre begann dann aber  in den meisten Ländern die wirtschaftliche Erholung. Das statistische Büro der EU-Kommission erfasst die Volkswirtschaftliche Gesamtrechnung der EU-Mitglieder unter den ehemaligen Ostblockländern seit 1995 und bietet auf Basis des durchschnittlichen jährlichen Arbeitseinkommens eine standardisierte Vergleichmöglichkeit der Lohnentwicklung. Schaubild 4 zeigt das Lohnniveau dieser Länder im Jahr 1995 gemessen in Euro im Vergleich zu dem entwickelter Länder. Auch hier wird wieder deutlich, dass die Löhne dieser Länder damals nur einen Bruchteil des Lohnniveaus der entwickelten Länder erreichten. Sie repräsentieren also wiederum klassische „Billiglohnländer“.

Schaubild 4

Wiederum nutzten viele Unternehmen aus entwickelten Ländern die wirtschaftliche Öffnung dieser Länder, um von den niedrigen Lohnniveaus zu profitieren. Das hohe Ausbildungsniveau der Länder erlaubte jetzt auch eine Verlagerung technologisch anspruchsvollerer Produktionsbereiche und die geografische Nähe  zu europäischen Industrieländern begünstigte eine enge Verzahnung von Wertschöpfungsketten. Schaubild 5 zeigt, dass auch dieser Prozess mit einem deutlichen Anstieg der Reallohnniveaus einherging (Um den Einfluss von Wechselkursschwankungen auszuschließen, wurde bei der Berechnung der Indizes analog zu Schaubild 2 vorgegangen). Der sehr viel geringere Anstieg der Reallohnniveaus in Deutschland und dem Durchschnitt der Gründungsmitglieder der EWU (EU-12), zeigt wiederum, dass es wie nach der wirtschaftlichen Öffnung der südostasiatischen Länder zu einem klaren Aufholprozess bei den Reallöhnen gekommen ist.

Schaubild 5

Schaubild 6 zeigt erneut, dass eine im Vergleich zu Deutschland oder dem EU-Durchschnitt erhöhte Investitionstätigkeit, diesen Prozess begleitet hat. Sowohl die Erfahrungen der südostasiatischen „Tigerstaaten“ als auch die der osteuropäischen Reformländer sprechen also dafür, dass das am reinen Gewinnstreben von Unternehmen orientierte Ausnutzen von Lohndifferenzen zwischen verschiedenen Ländern zu einem Aufholprozess der Einkommen unterentwickelter Länder beiträgt und damit einen wichtigen Beitrag zur wirtschaftlichen Entwicklung leistet. Man kann darin auch das Wirken des  berühmten Mechanismus sehen, den Adam Smith als „unsichtbare Hand“ bezeichnet hat: Wenn die marktwirtschaftlichen Rahmenbedingungen richtig gesetzt sind, führt reines Eigennutzstreben zu gesamtwirtschaftlich wünschenswerten Ergebnissen.

Es sollte klar sein, dass ein solcher Aufholprozess der Einkommen nicht einsetzten würde, wenn man die Unternehmen zwänge, in unterentwickelten Länder die gleichen Löhne zu zahlen, wie in den entwickelten Ländern. In diesem Fall bestünde kein Anreiz für die Unternehmen, in unterentwickelten Ländern zu investieren. Was auf den ersten Blick als „fair“ oder „gerecht“ erscheint, nämlich gleiche Löhne für Arbeitnehmer in entwickelten und unterentwickelten Ländern, führt bei genauerer Betrachtung also zu einer Zementierung von Unterentwicklung. Es zeigt sich wieder einmal, dass in wirtschaftlichen Zusammenhängen „gut gemeint“ häufig das genaue Gegenteil von „gut“ zur Folge haben kann. Das ist für Nicht-Ökonomen oft nur schwer nachzuvollziehen. Es ist nicht intuitiv. Ökonomen bleiben deshalb immer wieder gefordert, diese Zusammenhänge zu erklären und zu dokumentieren.

Vor diesem Hintergrund ist es sehr bedenklich, wenn staatlich finanzierte deutsche Hochschulen sich verpflichten, bestimmte „Ethikkodizes“, wie zum Beispiel die sogenannten „Principles of Responsible Management Education“ (PRME) in ihre Kurrikula zu integrieren. Mit den PRME verpflichten sie sich auch wirtschaftspolitische Positionen wie den „UN Global Compact“ in ihren Kurrikula zu propagieren (PRME, Principle 2). Der „Global Compact“ fordert  z.B., dass Unternehmen auch in Ländern, deren Arbeitsmarktverfassung Gewerkschaften kein Tarifrecht einräumt, die Lohnhöhe in Verhandlungen mit Gewerkschaften festlegen müssen (Global Compact Principle 3). Die Wirkung von Tarifkartellen auf den Arbeitsmarkt wird in den Wirtschaftswissenschaften schon seit langem diskutiert. Theorien, wie die auf  Snower und Lindbeck (1989) zurückgehende Insider-Outsider Theorie zeigen, dass unter solchen institutionellen Rahmenbedingungen in der Regel ein Tariflohnniveau  resultiert, das über dem Marktgleichgewichtslohn des jeweiligen Landes liegt. Für Entwicklungsländer führen Tariflohnsysteme also dazu, dass die Anreize für Unternehmensinvestitionen sinken und der wirtschaftliche Entwicklungsprozess sich verlangsamt. Viele Wirtschaftswissenschaftler betrachten deshalb Tarifkartelle als Blockaden der Wirtschaftsentwicklung. Damit stellt sich die Frage, wie Hochschulen, die die PRME unterschrieben haben, das Prinzip der Freiheit der Lehre, das in Deutschland Verfassungsrang hat (Art. 5 (3), GG), einhalten wollen. Man kann nicht beides gleichzeitig, die Verpflichtungen aus den PRME resultieren  einhalten und die Verpflichtungen, die aus dem deutschen Grundgesetz resultieren respektieren. An mindestens einer Stelle muss man „mogeln“. Für die meisten Ethikentwürfe ist letzeres nicht akzeptabel, wenn es ohne Not geschieht.

3 Kommentare zu „Sind Unternehmensinvestitionen in Billiglohnländern ein Grund „fuchsteufelswild“ zu werden?

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